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  • AutorenbildDenise Nyffenegger

Misophonie - schon mal davon gehört? (1.Teil)

Aktualisiert: 12. Juni


Misophonie
Bildquelle: misophonie.de


Lange bevor mir der Begriff «Miosphonie» zum ersten Mal zu Ohren gekommen ist, konnte ich bei Leuten die dafür typische Verhaltensweise beobachten: Menschen, die extrem wütend und aggressiv werden, wenn sie Kau-, Atemgeräusche oder generell sich wiederholende Geräusche hören. Dass diese Störung weiterverbreitet ist und sogar einen Namen hat, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Wer selbst keine derartige Erfahrungen kennt, kann vermutlich nur schwer nachvollziehen, was Misophoniker*innen durchmachen. Das Buch von Thomas H. Dozier «Misophonie verstehen und überwinden» hat mir zu einem grossen Aha-Erlebnis verholfen wie auch Erklärungen geliefert, was ich in meiner therapeutischen Tätigkeit beobachte und selbst seit meiner Kindheit erlebe.


Andreas Seebeck ist psychotherapeutischer Heilpraktiker und Herausgeber Dozier’s Buch. Da es bis 2016 keine deutschsprachige Literatur zu Misophonie gab, übersetzte er das englischsprachige Werk, um es einer noch breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nicht zuletzt, weil er als Elternteil sich selbst jahrelang im Ungewissen befunden hatte, womit sein Kind tagtäglich zu kämpfen hatte. Und keine Therapie eine nachhaltige Veränderung bewirken konnte. Im Gegenteil, die Ausprägung der Störung schien sich mit jeder therapeutischen Intervention noch zu verstärken. Seit 2016 arbeitet Andreas Seebeck intensiv mit Misophoniker*innen.

Die Forschungsergebnisse von Thomas H. Dozier und zahlreiche Erfahrungsberichte aus seiner therapeutischen Arbeit sind sehr aufschlussreich. Er schafft falsche Vorstellungen über Misophonie aus der Welt und betreibt Aufklärungsarbeit. Zahlreiche Bewältigungsstrategien sind im Buch vorzufinden, damit all jene, die darunter leiden oder als Familienmitglied direkt betroffen sind, Zugang zu einem entspannteren Zusammenleben finden können.


Andreas Seebeck hat im Jahr 2020 ergänzend das Buch «Misophonie - Lisas Wut auf Geräusche» herausgegeben. Ein empfehlenswertes Werk, das kompakt und verständlich in Wort und Bild prägnant über Misophonie aufklärt und durch Febe Homrighausens Illustrationen sich auch für Kinder und Jugendliche eignet. Den beiden Autoren wie der Illustratorin sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Viele Menschen sind von Misophonie betroffen und wissen oft gar nicht, dass es nicht bloss eine Macke ist. Thomas H. Dozier wie auch Andreas Seebeck tragen massgeblich mit ihren Büchern dazu bei, dass sich zahlreiche Betroffene in den Fällen wiedererkennen und praktische Tipps erhalten, wie sie ihren Alltag anderweitig meistern können. Es erstaunt nicht, dass Thomas H. Dozier selbst eine Tochter und Enkelin hat, die an Misophonie leiden.



Wie wird Misophonie definiert?


Misophonie setzt sich aus den griechischen Wörtern «Miso» und «Phonia» zusammen, was wortwörtlich «Hass auf Geräusche» bedeutet. Bereits ein harmloses Kaugummikauen oder Husten können eine extrem emotionale Reaktion bei Betroffenen auslösen. Dabei reicht es oftmals sogar, wenn es lediglich visuelle Eindrücke sind oder in seltenen Fällen Gerüche. Ich möchte vorweg nehmen, dass es sich nicht um Einbildung handelt! Diese Menschen sind auch nicht überempfindlich, hochsensibel oder etwa schlecht gelaunt. (Vgl. DOZIER 2016: 15ff)



Wie äusserst sich Misophonie und welche Auswirkungen hat sie?


Misophonie kann für betroffene Menschen eine extreme Belastung darstellen. Misophoniker*innen reagieren unmittelbar auf ein Geräusch - auch Trigger genannt. Diese Reaktion ist ein Reflex und der ist unfreiwillig, also durch den Willen nicht beeinflussbar. Dabei spielt es keine Rolle in welcher Lautstärke die Geräusche auf die Person einwirken. Die Reaktion ist generell mit unverhältnismässig starken Emotionen verbunden - üblicherweise mit Hass, Wut, Ekel oder Verbitterung. Misophoniker*innen sind einfallsreich, um dem Geräusch und den damit verbundenen Gefühlen entkommen zu können. Nicht selten ziehen sich Betroffene komplett von ihrem Umfeld zurück. Es liegt auf der Hand, dass Misophonie das Beziehungsleben stark beeinträchtigt und dessen Gelingen von äusserst einfühlsamen und verständnisvollen Gegenüber abhängt. Misophoniker*innen kämpfen mit zahlreichen Vorurteilen und erhalten ungefragt viele Ratschläge wie beispielsweise, das Geräusch doch einfach zu ignorieren! Nur funktioniert das nicht. Weshalb das so ist, darauf komme ich noch zu sprechen. (Vgl. DOZIER 2016: 59ff)



Misophonie - was im Gehirn passiert.
Bildquelle: misophonie.de/was-im-gehirn-passiert


Wie kommt es zu Misophonie?


Nicht selten ist ein Geräusch NUR dann ein Trigger, wenn eine ganz bestimmte Person es verursacht. Wie erkläre ich der Freundin, dass ihre Kaugeräusche in mir existenzielle Gefühle auslösen und ich sofort die Flucht ergreifen muss? Würde ich das nicht tun, bekäme sie die geballte Ladung meines Wutausbruchs zu spüren. Verantwortlich dafür ist ein unfreiwilliger emotionaler Reflex auf ein Geräusch. Vereinfacht ausgedrückt sind die damit verbundenen Emotionen das Resultat eines Triggers. Schuld- und Schamgefühle sind in den meisten Fällen vorprogrammiert, weil Misophoniker*innen selbst einschätzen können, dass ihre Reaktionen unangemessen sind. Sich deswegen Vorwürfe zu machen, kontraproduktiv - vermeiden lässt sich das trotzdem häufig nicht.


Trigger entstehen üblicherweise in Alltagssituationen. Der allererste Misophonie-Trigger stammt immer von einer bestimmten, oft nahestehenden Person aus der Familie oder dem näheren und vertrauten Umfeld. Oder aus einem bestimmten Lebensbereich.



Lisa, die wütend wird aufgrund von Essensgeräuschen..
Bildquelle: misophonie.de


«Ob ein Geräusch zum Trigger wird, liegt nicht an dem Geräusch an sich, sondern an den Umständen unter denen es wahrgenommen wird.»

(Dozier 2016: 41)


Misophonie ist eine wenig bekannte Störung, jedoch weit verbreitet und nimmt ihren Anfang im Kindesalter. Meist verschlimmert sie sich in Verlauf der Pubertät.



Was genau passiert im Körper?


Ein Trigger wird wahrgenommen und unmittelbar erfolgt die Reaktion. Die überwältigenden Emotionen sind vielfältig und reichen von Wut, Ekel, Verbitterung, Hilflosigkeit bis hin zu Trostlosigkeit und werden von diversen physiologischen Reaktionen begleitet: extreme Stressgefühle, beschleunigter Herzschlag, Muskelanspannungen und Schwitzen. Selbst wenn das Geräusch resp. der Trigger nicht mehr zu hören (zu sehen oder zu riechen) ist, kann es unter Umständen mehrere Stunden dauern, bis Misophoniker*innen sich wieder beruhigen und regulieren können.



Warum ist es nicht möglich, dieser Reaktion zu entkommen?


Thomas H. Dozier bringt es mit seinem Beispiel im Buch eindrücklich auf den Punkt; so unmöglich es ist einen Schweissausbruch zu kontrollieren, so wenig sind Misophoniker*innen in der Lage, ihre Reaktionen auf Trigger zu verhindern. Der dafür verantwortliche Teil des Gehirns - Reptiliengehirn oder auch als Hirnstamm bezeichnet und Sitz des autonomen Nervensystems - kontrolliert unsere Reflexe und spielt eine zentrale Rolle bei der Misophonie. Sie wird durch die unbewussten Teile des Gehirns gesteuert. JEDESMAL, wenn unser Reptiliengehirn den Trigger wahrnimmt, wird die Emotion ausgelöst.



«Der Dauerstress, unter dem ein Misophoniker steht, der fortwährend getriggert wird, führt zu einer starken körperlichen Anspannung. Die wiederum ermöglicht die Bildung von neuen Triggern. Denn jedes sich wiederholende Geräusch und jede sich wiederholende Geste, die unter dieser enormen körperlichen Anspannung wahrgenommen wird, kann zu einem weiteren Trigger werden.»

(SEEBECK 2020: 14)



Welches sind weitverbreitete misophonische Trigger?


Geräusche/Audio-Trigger:


  • Ess- und Trinkgeräusche: Kauen, Zähneknirschen, Schlucken, Schlürfen

  • Geräusche am Tisch: Klirren, Kratzen am Teller

  • Andere Mundgeräusche: Zahnseide benutzen, Zähneputzen,

  • Verwandte Geräusche: Plastikflasche quetschen, Chipspackung öffnen

  • Atemgeräusche: Schniefen, Schnauben, Schnarchen, Gähnen, Räuspern


Verbale Trigger:


  • Konsonanten (besonders S und P), Flüstern, Singen, ganz bestimmte Worte

  • Alltagsgeräusche: Gelenkknacken, Fingertrommeln, Fingerschnippen, aggressive Musik

  • Geräusche am Arbeitsplatz: Tippen, Umblättern, Mausklicken

  • Tiergeräusche: Vogelgezwitscher, Grillengezirpe, Gewinsel, Hundegebell, Froschgequake


Visuelle Trigger:


  • Mit dem Fuss wippen, den Fingern trommeln, mit einer Haarsträhne spielen,


Geruchstrigger:


  • Bestimmte Gerüche: Zigarettenrauch, Parfum


Diese sind selten und treten autonom oder im Zusammenwirken mit andere Triggern auf.


Taktile Trigger:


  • Eine Tastatur anfassen, bestimmte Textilien


Weitere Trigger:

  • Vibrationen von Musik, schwere Schritte


Ich selbst werde extrem von Zigarettenrauch getriggert, weshalb ich diese Form bei den Geruchstriggern aufgeführt habe. Jeder andere Geruch kann jedoch genauso zum misophonischen Trigger werden.



Der 1. Teil des Beitrags hat uns in die Problematik und Herausforderungen der Misophonie geführt. Die wichtigste Frage jedoch bleibt noch unbeantwortet: wie damit leben? Thomas H. Dozier und Andreas Seebeck zeigen zahlreiche wirkungsvolle Möglichkeiten und Bewältigungsstrategien für Betroffene und ihre Angehörigen auf. Dieser Thematik widme ich mich im 2. Teil meines Beitrags. Zudem berichte ich ausführlicher über komplementärtherapeutische Möglichkeiten und wie diese selbstkompetent entwickelt und angewendet werden können: es gibt ein Leben mit Misophonie. Ich spreche aus eigener Erfahrung. Als Betroffene wie auch als Therapeutin. Soviel zum Ausblick. Fortsetzung folgt. Interessiert?


Herzlichen Dank für’s Vorbeischauen - bis demnächst!

Denise Nyffenegger




Literaturverzeichnis


Dozier, Thomas H. (2016): Misophonie verstehen und überwinden. Entstehung und Verlauf, Diagnose und Behandlung. 2. vollständig überarbeitet Auflage. Lotus Press.Seebeck, Andreas / Homrighausen, Febe


Seebeck, Andreas / Homrighausen, Febe (2020): Misophonie - Lisas Wut und die Geräusche. Lotus Press.


Seebeck, Andreas (2020): Wenn Geräusche Wut auslösen - Informationen und Hilfe. https://misophonie.de [Stand: 19.03.2022].

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