Lange vor meiner Ausbildung zur Therapeutin ging ich davon aus, dass Gesundheit im menschlichen Körper bei der Geburt als Normalzustand angelegt ist. Je nach Konstitution eines Menschen kann dieser Zustand mehr oder weniger ausgeprägt sein. Wie verhält es sich bei einem Kind, welches mit einer körperlichen Behinderung zur Welt kommt? Ist dieses Kind jetzt ungesund? Oder etwa krank? Kann in dieser Situation überhaupt von Gesundheit gesprochen werden? Erkrankt ein Mensch im Lauf seines Lebens an Krebs, verliert er seine Gesundheit? Kommt die Krankheit hinzu? Oder muss der Erkrankte ein Stück seiner Gesundheit abgeben? Fragen, die mich zum Nachdenken anregten. Was ist Gesundheit? Und wie wird sie definiert? Der israelisch-amerikanische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky brachte diese Frage in die Wissenschaft ein, nachdem er auf ein unerwartetes Ergebnis in einer seiner Erhebungen stiess.
Aaron Antonovsky (1923 – 1994)
1970 wertete Aaron Antonovsky eine Untersuchung über die Anpassungsfähigkeit von Frauen verschiedener ethnischer Gruppen in Israel an das Klimakterium aus. Eine dieser Gruppen setzte sich aus Frauen zusammen, die sich 1939 in einem nationalsozialistischen Konzentrationslager befunden hatten und zu diesem Zeitpunkt zwischen 16 und 25 Jahre jung waren. Dieser Gruppe wurde eine Kontrollgruppe gegenübergestellt. 29% der Frauen in der Gruppe der KZ-Überlebenden wurde eine gute körperliche und psychische Gesundheit zugesprochen im Vergleich zu 51 % in der Kontrollgruppe. Nicht etwa der Vergleich an sich stellte für Aron Antonovsky das eigentlich überraschende Ergebnis dar. Nein, es war die Tatsache, dass der Gesundheitszustand bei 29% der überlebenden Frauen als gut beurteilt wurde. Und das trotz unvorstellbarem Horror im KZ und dem Leben als Flüchtlingen danach.
Frauen blieben auch unter widrigsten Lebensbedingungen gesund
Diese Beobachtung führte Aaron Antonovsky zu der Frage: Wie entsteht Gesundheit? Über welche Eigenschaften und Ressourcen verfügten diese Menschen, dass ihre körperliche und psychische Gesundheit auch in widrigsten Lebensumständen erhalten blieb?
Salutogenese
Der Begriff Salutogenese wird von Aaron Antonovsky geprägt und als Gesundheitsentstehung und –erhaltung verstanden. Dabei handelt es sich um einen Prozess, der stetigen Veränderungen unterworfen ist. Gesundheit darf nicht als ein statisch stabiler Gleichgewichtszustand betrachtet werden. Es ist vielmehr ein dynamischer Prozess. Das Salutogenese-Modell entstand als komplementärer Begriff zur Pathogenese in den 1980er Jahren. Eine wesentliche Leistung des menschlichen Organismus aus salutogenetischer Sicht ist die Fähigkeit der Selbstregulation: Das System ist in der Lage auf innere und äussere Gegebenheiten zu reagieren und sie auf physischer, psychischer und sozialer Ebene auszubalancieren.
Unter der salutogenetischen Orientierung wird verstanden, dass
der Mensch nicht als gesund oder krank gilt sondern sich innerhalb eines multidimensionalen Gesundheits-Krankheits-Kontinuum bewegt;
die gesamte Geschichte eines Menschen einschliesslich seiner Krankheiten betrachtet wird und der Fokus sich nicht ausschliesslich auf eine bestimmte Krankheit richtet;
Faktoren, die zur Erhaltung oder zum gesunden Pol hinweisen, in den Vordergrund rücken, währenddessen die Frage nach dem «Krankmachenden» nicht ausser acht gelassen wird;
Stressoren sich nicht notwendigerweise pathologisch auswirken und unter Umständen sogar gesund sein können abhängig vom Charakter des Stressors und der erfolgreichen Auflösung der Anspannung;
komplexe Zusammenhänge als Information dienen, die die Anpassungsfähigkeit des Organismus an seine Umgebung vereinfachen;
ermittelte abweichende Fälle immer ins Auge gefasst werden, die über die pathogenetischen Untersuchungen erfassten Daten hinausreichen.
Aaron Antonovsky propagierte keineswegs die Aufgabe der pathogentischen Orientierung. Er plädierte viel mehr, dass die intellektuellen und materiellen Ressourcen zwischen den zwei Orientierungen ausgeglichener verteilt würden.
Kohärenzgefühl
Mit der Antwort auf die Frage der Gesundheitsentstehung rückte Aaron Antonovsky das Konzept des Kohärenzgefühls (sense of coherence) ins Zentrum, welches er wie folgt definierte:
«Das SOC (Kohärenzgefühl) ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmass man ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass
die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äusseren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind;
einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen;
diese Anforderung Herausforderungen sind, die Anstrengungen und Engagement lohnen. (Antonovsky, 1997, S. 36).»
Literaturangabe: Aaron Antonovsky: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Deutsche Herausgabe von Alexa Franke. dgvt-Verlag, Tübingen 1997
Bildquelle: http://www.in.com/aaron-antonovsky/profile-3063.html
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